Friday, July 16, 2010

dr. ahmed.abdelsalam: „Das Verhältnis des beduinischen zum islamischen R...

dr. ahmed.abdelsalam: „Das Verhältnis des beduinischen zum islamischen R...: "Recht ist eine gesellschaftliche Institution. Es ändert die Gesellschaft und ändert sich mit der Gesellschaft. Es schafft Kultur. Kultur ist..."

Das Verhältnis des beduinischen zum islamischen Recht in sozialem und historischem Kontext: Rechtskonzept, Institutionen und Praxis - Die THESEN

Die drei Hauptthesen:

These I

Das Recht der arabischen Stämme, genannt Beduinisches Recht, in der Vergangenheit und in der Gegenwart stellt eine eigene Rechtskultur dar, die im Sinne der Rechtsvergleichungstheorie nach den determinierenden Kriterien von Constinansco als eine Rechtsfamilie per se bezeichnet und betrachtet werden soll, wobei die Tribalität, welche sich durch die kollektive Haftung der Solidargruppe zeigt, zusammen mit dem Ausgleich nach dem ḥaqq-Prinzip, also dem „subjektiven Recht“-Prinzip, die entscheidenden Unterscheidungskriterien nach René David für die Rechtsfamilie des beduinischen Rechts darstellen. Trotzdem war das Recht der arabischen tribalen Gemeinschaften in der Neuzeit alles anders als vereinheitlicht. Im Laufe ihrer Geschichten entwickelten sich die Stammesgemeinschaften und das von ihnen praktizierte Recht je nach Bedarf und eigenen Voraussetzungen. Sie bildeten dadurch kleinere unterschiedliche Rechtskreise innerhalb der beduinischen Rechtsfamilie.


These II


Die Interaktion zwischen beduinischem und islamischem Recht ist vielschichtig. Zum Rechtswesen der Zeit der Entstehung des islamischen Rechts, gehörten die tribalen Rechtshandlungen der Altaraber mit ihren Normen und Praktiken sowie die religiösen Rechtsauffassungen der Juden und Christen von Arabien. Alles floss in einen Korpus. Im islamischen Recht sind daher Elemente der verschiedenen beeinflussenden Rechtssysteme wiederzuentdecken. So vereinigte das islamische Recht die Idee des Rechtsausgleiches der Altaraber und Beduinen „ḥaqq“ mit dem Prinzip der Buße „kaffāra“ des religiösen Rechts, indem die kaffāra als Ausgleich für die verletzten Rechte Gottes (ḥaqq Allāh) interpretiert und damit die Stiftung objektiven strafrechtlichen Sinns (ʿaqūba/ḥudūd) legitimiert wird.
Die Auffassung von Strafe als Buße und Individualität der Schuld sind die entscheidenden Unterscheidungskriterien für das islamische Recht, die ich als Merkmale der Islamität der Rechtsanwendung betrachte. Diese Merkmale harmonisieren aber nicht selbstverständlich mit der Rechtstribalität des beduinischen Rechts, welches unter anderem dem Zusammenhalt des tribalen Verbands dienen soll. Daher bin ich der Meinung, dass eine Form der Beduinisierung bzw. Tribalisierung der Rechtsanwendung bei der Übersetzung islamischer Normen durch die Beduinen stattfand.

These III

Die Rechtstransformationen, welche arabische Stammesgemeinschaften der Neuzeit in der Zentralregion und bei den Awlād ʿAlī erlebten, stehen in enger Verbindung zur Bildung tribaler Neuorganisationen durch Spaltungen oder Fusionen begleitet mit der zunehmenden Neuschaffung von vertraglichen Rechtsräumen innerhalb und außerhalb einer Genealogie.

„Das Verhältnis des beduinischen zum islamischen Recht in sozialem und historischem Kontext: Rechtskonzept, Institutionen und Praxis“

Recht ist eine gesellschaftliche Institution. Es ändert die Gesellschaft und ändert sich mit der Gesellschaft. Es schafft Kultur. Kultur ist dynamisch. So auch ist das Recht aus einer historischen Perspektive veränderlich und dynamisch. Das Gleiche gilt für das beduinische Recht, also Recht, Rechtsnormen und Rechtspraktiken arabischer Beduinen.

Hypothese und Leitfragen

Gestützt auf die Hypothese, dass das beduinische Recht ein eigenes System des Rechts und der Gerichtsbarkeit darstellt bzw. eine eigene Rechtsfamilie bildet, untersuche ich in meiner Dissertation die Dynamik des beduinischen Rechts aus einer historischen Perspektive.
Dabei stelle ich zwei Leitfragen: was ist beduinisches Recht? Und wie wirkt beduinisches Recht?

Thematische Problematik

Die Leitfragen stellten sich aus zwei Gründen als eine erkenntnis-theoretische Herausforderung dar.

Der erste Grund basiert darauf, dass Beduinisches Recht kein kodifiziertes Recht ist, sondern als Gewohnheitsrecht überliefert wird. Gleichzeitig wird in seiner Praxis überwiegend auf ältere bekannte Fälle (sog. sawālif) zurückgegriffen. Dementsprechend gibt es keine verlässlichen Quellen über den Bestand beduinischen Rechts. Dennoch werden uns nur Bruchteile seines gesamten Bestandes durch Reiseberichte, empirische Studien und mikrohistorische Untersuchungen von Gerichtsarchiven überliefert. Die Studien und Berichte stehen aber unabhängig voneinander und reflektieren erworbene Erkenntnisse aus verschiedenen Zeiten über unterschiedliche Gruppierungen unter ungleichen Bedingungen und in ungleichmäßigen Verhältnissen. So erscheinen sie manchmal wie Teile verschiedener Puzzle.

Der zweite Grund liegt in der Tatsache, dass das beduinische Recht seine Geltung durch seine Praktizierung und seine gesellschaftliche Akzeptanz innerhalb der Gemeinschaft seines Geltungsraums gewinnt. Demzufolge sind Abweichungen bei der Übersetzung gleicher Normen unter verschiedenen Gruppierungen oder in unterschiedlichen Zeiten unvermeidbar.
Eine Rechtsvergleichung beduinischen Rechts als solchem zu einem anderen Recht kann daher meines Erachtens nur in eingeschränkter Weise auf einer Metaebene stattfinden.


Methodik und Aufbau der Arbeit


Zur Bewältigung der oben geschilderten Herausforderung verfolgte ich die Entwicklung der Rechtspraktiken, -Normen und -Institutionen arabischer Stämme an Hand bisher vorhandener wissenschaftlicher Literatur und überlieferten Berichten zum Thema gestützt auf empirische Eigenerkenntnisse im Feld in Ägypten und im Sudan.

Ich führe in den drei Kapiteln meiner Arbeit eine historische Untersuchung der Entwicklung altarabischer Rechtsnormen zu einem Rechtssystem arabischer Stämme in der Neuzeit mit methodischer Anlehnung auf die Rechtsvergleichungstheorie zur Klassifizierung von Rechtsfamilien nach Constantinsco (1983) und der Ansicht von René David (1950) zu den Unterscheidungskriterien durch.

In der Rechtsvergleichungstheorie qualifiziert Constantinsco die Kategorie der Rechtsfamilie als eine Oberstufe der Kategorie des Rechtskreises. Er sieht folgende determinierende Elemente als Klassifikationskriterien von Rechtsfamilien vor:

1. Auffassung von Recht und Rechtstyp (Struktur, Funktion und Finalität des Rechts)
2. Ideologie und ihre Rolle
3. donnée sociale und construit juridique und ihre Beziehungen
4. Wirtschaftsverfassung
5. Soziale und staatliche Organisation
6. Bildnis des Menschen, seine Stellung, seine Freiheiten und seine Grundrechte
7. Rechtsquellen und ihre Hierarchie
8. Stellung und Rolle des Richters bei der Auslegung des Rechtes, Rechtsauffassung und „juristische Denkweise“.

René David ist der Ansicht, dass die Rechtskonzeption das entschiedene Kriterium zur Unterscheidung zwischen den Rechtsfamilien sei

Die Untersuchung des beduinischen Rechts entsprechend den Klassifizierungskriterien von Constantinisco erstreckt sich über die gesamte Arbeit.

Im ersten Kapitel untersuche ich die Auffassung von Recht, Rechtstyp, und Rechtsquelle des beduinischen Rechts. Um die Merkmale der beduinischen Rechtsfamilie festzustellen, wurden Berichte zu altarabischer Rechtspraxis mit Berichten über beduinische Rechtspraktiken verglichen.

Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit dem Verhältnis des altarabischen zum islamischen Recht auf der Suche nach dem entscheidenden Unterscheidungskriterium zwischen Tribalität und Islamität der Rechtsanwendung.

Im dritten Kapitel werden Berichte über Rechtspraxis der Beduinen in der Neuzeit nach modellhaften Transformationen und der Bildung von Rechtskreisen innerhalb der beduinischen Rechtsfamilie untersucht.

Es werden unter anderem Rechtsnormen, -Praktiken und -Institutionen sowie Rechtsgeschichte verschiedener Stammesgruppierungen und Körperschaften in der Neuzeit untersucht und miteinander verglichen. Dabei entschied ich, Stammesgemeinschaften der Beduinen-Zentralregion, welche sich vom Nordarabien über Ostjordanland und Negev bis zum Sinai in Ägypten ausstreckt, und die Stammesgemeinschaften der Awlād ʿAlī Gebiete in der libyschen Wüste Ägyptens und zwar zwischen dem 17. und 20. Jahrhundert zu betrachten.

Thesen und Ergebnisse:

Durch die durchgeführte Untersuchung kam ich zu folgenden Erkenntnissen:

1. Die beduinischen Rechtspraktiken und -Normen umfassten historisch gesehen und bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts hinein alle Bedarfsgebiete des sozialen tribalen Lebens und enthielten Aspekte aus den Bereichen des Kriminalrechts, Zivilrechts, Familienrechts und des Kriegsrechts. Sie besaßen ebenfalls eigene Institutionen der Rechtspflege. Daher ist es berechtigt vom beduinischen Recht als einem Rechtssystem zu sprechen.

Die Rechtspraktiken und Normen arabischer Stämme spiegeln eine eigene Rechtskultur, in der das praktizierte Recht, dem Zusammenhalt tribaler Strukturen neben der Wiederherstellung verletzter Rechte durch den Ausgleich dient. [Rechtsfinalität]

Die arabischen Stämme kannten in ihrer Auffassung von Recht, grundsätzlich keinen Sinn einer Bestrafung. Im Vordergrund stand als Ziel immer die Behebung des Schadens oder Ersatz und Ausgleich für Beschädigungen nach dem Prinzip des subjektiven Rechts. Daher spricht der Beduine, anstelle von „ʿuqūba“ im Sinne der Rechtsfolge einer begangenen Straftat, von „ḥaqq“ – im Sinne von Recht anstatt von Gesetzen, Vorschriften oder Obligationen etc., sowie von „ḥaqq“ im Sinne einer Entschädigung für den ihm zugefügten Schaden oder im Sinne eines Ausgleiches seiner verletzten oder nicht berücksichtigten Rechte.

Zum Beispiel gab es bei den Beduinen für Diebstahl keine Strafe. Es wurde lediglich die Rückgabe oder Rückerstattung des Diebesguts durch den Dieb und seine mithaftende Verwandtschaft (ʿuṣba) gefordert. Dies wurde dann als ḥaqq bezeichnet. War der Diebstahl mit einem Einbruch in das Zelt des Diebesopfers während dessen Abwesenheit oder in der Anwesenheit von dessen Frauen verbunden, so wurde in Betracht gezogen, dass der Täter damit die Ehre des Diebesopfers verletzte. Das Opfer konnte dann eine entsprechende Entschädigung für seine verletzte Ehre verlangen, was ebenfalls als ḥaqq bezeichnet wurde.

Ein Ausgleich kann durch Vergeltung, außergerichtliche Mediation, richterliche Schlichtung oder Rechtsurteil eines Richters bestrebt werden. Die Stammesrichter besaßen unterschiedliche Fachkompetenzen.

Die subjektiv beanspruchten Rechte orientieren sich grundsätzlich nach einer Auffassung von allgemein beanspruchten Grundrechten.

Die Unversehrtheit der Ehre/Würde eines Mannes gehörte wie die Unversehrtheit seines Leibes und seines Eigentums zu den Grundrechten, die unter allen Beduinen unabhängig von Zeit, Ort und Stamm anerkannt waren.

Diese Anerkennung bedurfte Regelungen, die abhängig von Zeit, Ort und Stamm unterschiedlich waren. So entstanden natürliche und vertragliche Geltungsräume, in denen sich ein Mann auf seine grundlegenden Unversehrtheitsrechte berufen konnte.

Der natürliche Raum war die Gemeinschaft seiner Genealogie, bestand also innerhalb seines Stammes. Die Anerkennung dieser Rechte außerhalb dieses Raumes konnte nur durch kurz- und langfristige sowie temporäre und dauerhafte intertribale und transtribale Verträge geregelt werden.

Im natürlichen Rechtsraum verfügten nur erwachsene, freie und kampffähige Männer über vollständige und uneingeschränkte Rechte. In einem vertraglichen Rechtsraum bestimmte der Vertrag die Rechte eines Fremdlings innerhalb dieses Raumes oder verlieh ihm einen Status, dessen Rechte allgemein bekannt und meistens eingeschränkt waren. Ein Beispiel dafür ist der Rechtsstatus aller Schützlinge, wie Sklaven, befreiten Sklaven, Gästen etc.

Darüber hinaus stehen die Rechtsmechanismen des beduinischen Rechts strukturell und funktional in einer großen Abhängigkeit von der Tribalität (rawābiṭ ʿašāʾirīya). Denn eines der grundlegenden Prinzipien und damit entscheidenden Merkmale des beduinischen Rechts ist die kollektive Haftung.

Die Solidargruppe (ʿāqila) haftet für ihre Mitglieder und deren Handlungen; daher agiert sie auch stellvertretend im Interesse ihrer Mitglieder. Sie bildet damit eine juristische Körperschaft, die zur Verantwortung gezogen werden kann. Die Solidargruppe kann in einer natürlichen Form – also durch genealogische Beziehungen wie im Falle der sogenannten ʿuṣba, damawīa und ḫamsa –, oder in einer vertraglichen Form wie im Falle der sogenannten ʿamār unter Awlād ʿAlī gebildet werden.

Das von den arabischen Stämmen im Laufe der Geschichte praktizierte Recht deutet daher auf eine gemeinsame Auffassung von Recht, Rechtsstil und Rechtstyp hin.

Darauf begründe ich meine erste These: das Recht der arabischen Stämme, genannt Beduinisches Recht, in der Vergangenheit und in der Gegenwart stellt eine eigene Rechtskultur dar, die im Sinne der Rechtsvergleichungstheorie nach den determinierenden Kriterien von Constinansco als eine Rechtsfamilie per se bezeichnet und betrachtet werden soll, wobei die Tribalität zusammen mit dem Ausgleich nach dem ḥaqq-Prinzip, also dem „subjektiven Recht“-Prinzip, die entscheidenden Unterscheidungskriterien nach René David für die Rechtsfamilie des beduinischen Rechts darstellen.

2. Die Interaktion zwischen beduinischem und islamischem Recht ist vielschichtig. Nach Schacht machte sich das islamische Recht viele der altarabischen vorislamischen Rechtsbegriffe zu Eigen. Zum Rechtswesen jener Zeit, also Zeit der Entstehung des islamischen Rechts, gehörten die tribalen Rechtshandlungen der Altaraber mit ihren Normen und Praktiken sowie die religiösen Rechtsauffassungen der Juden und Christen von Arabien. Alles floss in einen Korpus. Dies bildete die islamische Werteordnung und die Normen, welche man später als šarīʿa bezeichnete.

In dem neuentstandenen Rechtssystem der Muslime sind daher Elemente der verschiedenen beeinflussenden Rechtssysteme wiederzuentdecken.

So vereinigte dieses Rechtssystem die Idee des Rechtsausgleiches der Altaraber und Beduinen „ḥaqq“ mit dem Prinzip der Buße „kaffāra“ des religiösen Rechts, indem die kaffāra als Ausgleich für die verletzten Rechte Gottes (ḥaqq Allāh) interpretiert und damit die Stiftung objektiven strafrechtlichen Sinns (ʿaqūba/ḥudūd) legitimiert wird.

Die Entwicklung des juridischen Denkens der früheren Muslime nahm gewisse Zeit in Anspruch und wurde in den religiösen Texten wie Koran und ḥadīṯ auf unterschiedliche Art und Weise reflektiert und kann daher historisch verfolgt, analysiert und rekonstruiert werden.

Insbesondere im strafrechtlichen Bereich – in Bezug auf Tötungs- und Körperverletzungsdelikte – übernahm der Islam viele der altarabischen Rechtsbegriffe und Rechtspraktiken bzw. -mechanismen.

Dazu zählen die Mechanismen des körperlichen und finanziellen Ausgleiches, welche unter den Begriffen qaud und diya bekannt sind. Auch die Haftung, al-ʿaql, als Begriff und Mechanismus, fand im islamischen Recht adoptiert ihre eigene Bahn.

So wird qaud im Sinne des kaffāra-Konzepts legitimiert und praktiziert.

Die absolute kollektive Haftung der Solidargemeinschaft für Handlungen ihrer Mitglieder wurde im Islam allmählich aufgehoben und durch ein Prinzip der individuellen Schuld ersetzt.

Die Übernahme altarabischer Rechtsbegriffe und Rechtsmechanismen in das islamische Recht bezeichne ich als Adoption. Adoptierte Begriffe, Praktiken und Mechanismen wurden wie in dem Beispiel von qaud und ʿaql zu einem Teil des islamischen Rechtes, ihrer vorislamischen Kontexte enthoben und ließen sich im Laufe der islamischen Geschichte angepasst an die Entwicklung des muslimischen Lebens und Denkens bewusst und islamisch eigenständig weiter entwickeln und entfalten. Sie verloren oft ihren alten Charakter, insbesondere, was die Rechtsfinalität betrifft.

Denn die neue Werteordnung des Islam hat die Normativität der altarabischen Handlungen entweder ersetzt (nasḫ), aufgehoben (rafʿ) oder bestätigt (iqrār). Bei nasḫ und rafʿ handelt es sich um innovative Änderungen an dem bisherigen praktizierten Recht mit seinen Handlungen und Normen. Bei solchen Änderungen stehen die alten Handlungen und Normen im Kontrast zu den neu festgelegten bzw. eingeführten islamischen Rechtshandlungen und Rechtsnormen, so dass man sie differenzierter voneinander betrachten kann. Bei iqrār handelt es sich dagegen um ein Kontinuum von Handlungen und möglicherweise deren Normen. Wir können zwischen zwei Arten des iqrār unterscheiden. Bei der ersten Art entstand der iqrār durch eine Handlung oder verbale Bestätigung des Propheten, wie bei der diya und dem qiṣāṣ; also können wir von einer Integration der Handlung sprechen. Die dahinter verborgenen Normen werden jedoch in einen islamischen Mantel gehüllt. Die beiden Handlungen wurden zu einem Teil des islamischen Rechtssystems. Da aber die Normen einer Handlung eine Sache der Interpretation sind, können wir sie in diesem Fall nicht wirklich isolieren und definieren.

So sind z.B. die islamischen diya, qaud und ʿaql augenscheinlich dieselben altarabischen diya, qaud und ʿaql geblieben. Trotzdem ist die Frage, inwiefern die Rechtspraktiken der diya, qaud und ʿaql der Neuzeitbeduinen als islamisch oder altarabisch zu charakterisieren sind, nicht einfach zu beantworten, insbesondere wenn die Beduinen sich auch bei ihrer Rechtspraxis gleichzeitig auf die sawālif und die Normen des Islam berufen und ihre Rechtshandlungen dadurch legitimieren wollen. Andererseits ist das islamische Recht für die Berücksichtigung lokaler Rechtspraktiken im Sinne vom Gewohnheitsrecht ʿurf oder im Rahmen von Mediation- und Schlichtungsverfahren also ṣulḥan, ohne sie sich anzueignen, offen. Das gleiche gilt aber nicht immer in die andere Richtung. Die Auffassung von Strafe als Buße und Individualität der Schuld sind meiner Ansicht nach die entscheidenden Unterscheidungskriterien für das islamische Recht, die ich als Merkmale der Islamität der Rechtsanwendung betrachte. Diese Merkmale der Rechtsislamität harmonisieren nicht selbstverständlich mit der Rechtstribalität des beduinischen Rechts, welches unter anderem dem Zusammenhalt des tribalen Verbands dienen soll. Daher ist die Beduinisierung bzw. Tribalisierung der Rechtsanwendung bei der Übersetzung islamischer Normen durch die Beduinen nicht auszuschließen, so ist meine zweite These.

3. Dass nach meiner These das beduinische Recht nun als eine Rechtsfamilie betrachtet werden sollte, bedeutet auf keinen Fall die Vereinheitlichung des praktizierten Rechts unter den Beduinen. Die arabischen Stammesgemeinschaften der Neuzeit waren alles anderes als homogen. Sie entwickelten unterschiedliche sozio-politische und ökonomische Strukturen und unterlagen dabei unterschiedlichen Entwicklungsgeschichten abhängig von verschiedenen Faktoren und unter vielfältigen Einflüssen.
Zu diesen Faktoren zähle ich:

1. die heterogene Zusammensetzung und die Größe der Stammesgemeinschaft,
2. die Intensität der Beziehungen zu anderen Stammesgemeinschaften,
3. die Intensität der Beziehungen zu religiösen Institutionen,
4. die Intensität der Beziehungen zu nicht nomadischen oder nicht tribalen Gemeinschaften,
5. die Intensität der Beziehungen zu staatlichen Institutionen,
6. die Intensität der Mobilität bzw. Seßhaftigkeit
7. die wirtschaftlichen Aktivitäten der Stammesgemeinschaft,
8. die militärischen Aktivitäten der Stammesgemeinschaft,
9. die Entwicklung eines kollektiven territorialen Anspruchs der Stammesgemeinschaft und
10. die Entwicklung entsprechender sozio-politischer Strukturen.

Die eben genannten Faktoren beeinflussten das soziale Leben der Beduinen und wurden von der Entwicklung des von ihnen praktizierten Rechts und seiner Institutionen reflektiert.
Empirische Berichte aus dem 19. und 20. Jahrhundert liefern uns folgende Indikatoren umfassender Wandlungsprozesse des praktizierten Rechts arabischer Stammesgemeinschaften, die überwiegend institutionellen Charakter hatten:

1. Die Festlegung von Rechtsverfahren
2. Die Institutionalisierung des Richteramtes
3. Die Rechtsspezialisierung
4. Die Festlegung der fachlichen Kompetenzen der Richter
5. Die Festlegung der instanziellen Kompetenzen der Richter
6. Die Festlegung der legislativen Kompetenzen der Richter
7. Die Herausbildung von Rechtskodex
8. Mehr Gewicht und Raum für vertragliche Rechtsräume
9. Die Bildung von Sonder-Solidargemeinschaften außerhalb und innerhalb der Genealogie
10. Die Beschließung von Rechtsgemeinschaften

Die erwähnten Indikatoren beziehen sich auf Strukturen, Verfahren, Mechanismen und Institutionen. Darüber hinaus gibt es drei weitere erwähnwerte Indikatoren, welche sich aber auf die Normen beziehen:

1. Die Legitimierung der Rechtshandlung durch die Verknüpfung mit islamischen Normen z.B. ad-diyya muḥammadiyya
2. Die Ächtung einiger alter Rechtshandlungen, die mit den islamischen Normen nicht mehr zu vereinbaren sind
3. Die Entwicklung eines eignen Sinnes für Buße bzw. Sanktionsbewusstsein

Diese Entwicklungen nahmen unterschiedliche Erscheinungsformen abhängig von den Voraussetzungen, die sie ins Licht gerufen haben, an. Sie bildeten innerhalb der Rechtsfamilie des beduinischen Rechts Rechtskreise, die zueinander in Kontakt standen, wie zum Beispiel innerhalb der Zentralregion oder isoliert voneinander wie im Falle von Awlād ʿAlī.

Frank Stewart unterscheidet grundsätzlich zwischen zwei rechtskulturellen Kreisen: al-mašriq und al-maġrib. Meine Untersuchung der Berichte über die Rechtsinstitutionen der Beduinen der Zentralregion stellte fest, dass innerhalb dieses begrenzten Raums mehrere Rechtskreise unterschieden werden können darunter:

1. Rechtskreis des abstrakten Systems bei den Wandernomaden in Nordarabien (ʿārifa, manqaʿ dumūm, ʿuqabī)
2. Rechtskreis der souveränen und militanten Stammesgemeinschaften wie im Falle von Ḥuwaiṭāt Ǧāzī und Banū Ṣaḫr (Politische und juridische Kontrolle durch die führende Elite)
3. Rechtskreis der Rechtskooperativen der Stammesgemeinschaften von Negev und Sinai
4. Rechtskreis der rechtspluralistischen Verfahren mit einem Hybridsystem wie bei den Stammesgemeinschaften der Judäischen Wuste und um die Städte al-ʿArīš und aṭ-Ṭaur in Sinai.

Im Kontrast dazu gehören Awlād ʿAlī mit ihrer Dirba zum Rechtskreis des beduinischen kodifizierten Rechts der Rechtsgemeinschaften wie ʿArab al-Anbār im Irak mit ihrem Sunaina.
Durch die Untersuchung des sozialen und historischen Kontextes solcher Wandlungen kam ich zur Beobachtung, dass die Rechtstransformationen unter den arabischen Stammesgemeinschaften der Neuzeit in Verbindung zur Bildung tribaler Neuorganisationen durch Spaltungen oder Fusionen begleitet mit der zunehmenden Neuschaffung von vertraglichen Rechtsräumen stehen. Dies war meine dritte These.

Abschließend
Gegen vielfache Auffassung war das Recht der Beduinen auf dem Gebiet des heutigen Jordaniens, Palästinas, Israels und Ägyptens zwischen dem 17. und 20. Jahrhundert alles andere als statisch. Deutlichster Ausdruck der veränderlichen Rechtsverhältnisse war die Aufteilung ihrer beduinischen Rechtsfamilie in neue Rechtskreise. Diese ging nicht in erster Linie auf äußere Einflüsse zurück, sondern entsprang der Eigendynamik der beduinischen Stammesgesellschaft. Diese Eigendynamik als Quelle von Rechtstransformationen bestand wesentlich in inter- und transtribalen Begegnungen und Konfrontationen; dies war auch in früheren Zeiten möglich – und wahrscheinlich.